Sonntag, 5. März 2017

Wertewandel in der "Wendezeit" (Capra)

Das Jahrzehnt von 2005 bis 2014 wurde von den Vereinten Nationen zur Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" ausgerufen. Einen frühen deutschen Beitrag zu dieser Dekade bildete das kostenlos nutzbare Online-Lehrbuch Nachhaltigkeit, das in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Es gliedert sich in fünf Abschnitte:

1) Was heißt Nachhaltigkeit?
2) Wie handle ich nachhaltig?
3) Wie funktioniert eine Lokale Agenda 21?
4) Wie kann man das Klima schützen?
5) Welche Probleme gibt es auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung?

Der folgende Auszug stammt aus dem 5. Kapitel, das versucht, grundlegende Hindernisse aufzuzeigen, die den Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung behindern. So spricht beispielsweise einiges dafür, dass Nachhaltigkeit und unsere vorherrschende Art zu Wirtschaften hinsichtlich der Ziele und Leitbilder inkompatibel sind. In seinem berühmten Weltbestseller "Die Kunst des Liebens" aus dem Jahr 1956 diagnostiziert der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm:
"Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen (...). Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen (...). Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet (...)". Er "überwindet ... seine unbewusste Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens (...), außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln (...). Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes - geistige wie materielle Dinge - wird zu Objekten des Tausches und des Konsums." [aus: Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, München 2000, S. 100-102]
Mit Blick auf die Wende hin zu einer nachhaltigen Entwicklung stimmt diese Analyse nachdenklich. In der Tat basiert unser wirtschaftliches Denken nach wie vor auf dem "Schneller, höher, weiter, mehr", auf dem Vertrauen darauf, dass sich die Probleme mit mehr Wachstum lösen lassen. Demgegenüber finden neue Wohlstandsmodelle wie das "Langsamer, weniger, besser, schöner" kaum Gehör (siehe "Die Vision vom solaren Zeitalter").

Bewusstseinswandel: Vom mechanistischen Weltbild ...

Erforderlich sei, so der berühmte Physiker und Vordenker einer ganzheitlichen Weltsicht, Fritjof Capra, ein grundlegender Wandel der Weltbilder und Wertvorstellungen. Dieser Wandel habe zwar begonnen, konnte sich aber noch nicht durchsetzen. Im Bereich der Wissenschaft wurde er ausgelöst von den bahnbrechenden Entdeckungen in der Physik Anfang des 20. Jahrhunderts. Im gesellschaftlichen Bereich sieht er eine Vorreiterrolle der weltweiten Ökologie- und Frauenbewegung.

Das Hauptproblem auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung besteht nach Capra darin, dass wir an einem überholten Weltbild festhalten, an einem mechanistischen Bild des Lebens, das auf der Physik Newtons basiert. Dieses überholte Paradigma charakterisiert er in seinem einflussreichen Buch "The Turning Point" (1982) folgendermaßen:
"Das Weltbild oder Paradigma, das jetzt langsam zurücktritt, hat unsere Kultur mehrere hundert Jahre lang beherrscht und hat während dieser Zeit die ganze Welt wesentlich beeinflusst. Es enthält eine Anzahl von Ideen und Wertvorstellungen: darunter die Auffassung, das Universum sei ein mechanisches System, das aus materiellen Grundbausteinen besteht; das Bild des menschlichen Körpers als einer Maschine; die Vorstellung des Lebens in der Gesellschaft als eines ständigen Konkurrenzkampfes um die Existenz; den Glauben an unbegrenzten materiellen Fortschritt durch wirtschaftliches und technisches Wachstum; und - nicht zuletzt! - den Glauben, dass eine Gesellschaft, in der das Weibliche überall dem Männlichen untergeordnet ist, einem grundlegenden Naturgesetz folgt. Alle diese Annahmen haben sich während der letzten Jahrzehnte als sehr begrenzt erwiesen und bedürfen einer radikalen Neuformulierung." [aus: Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Vorwort zur deutschen Taschenbuchausgabe, München 1991, S. IX]
... zum ganzheitlichen Weltbild

Diese Neuformulierung folgt einem neuen Paradigma, einer ganzheitlichen oder ökologischen Weltsicht. Capra verwendet auch den Begriff "systemisches Denken":
"In der Naturwissenschaft bietet nämlich die in den letzten Jahrzehnten entwickelte Theorie lebender Systeme den idealen wissenschaftlichen Rahmen zur Formulierung des neuen ökologischen Denkens (...). Lebende Systeme sind integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf die kleineren Einheiten reduzieren lassen. Statt auf Grundbausteine konzentriert sich die Systemtheorie auf grundlegende Organisationsprinzipien. Beispiele für Systeme gibt es in der Natur in Hülle und Fülle. Jeder Organismus - von der kleinsten Bakterie über den weiten Bereich der Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen - ist ein integriertes Ganzes und somit ein lebendes System. Dieselben Ganzheitsaspekte zeigen sich auch in sozialen Systemen, zum Beispiel in einer Familie oder einer Gemeinschaft, und ebenso in Ökosystemen, die aus einer Vielzahl von Organismen in ständiger Wechselwirkung mit lebloser Materie bestehen." [aus: Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Vorwort zur deutschen Taschenbuchausgabe, München 1991, S. X]
Zentral für die systemische Sicht ist die Erkenntnis, dass das Ganze immer etwas anderes ist als die bloße Summe seiner Teile. In dieser Sicht sind nur diejenigen Maßnahmen akzeptabel, die auch langfristig tragfähig sind, die also die lebenden Systemen nicht schädigen. Insofern bildet dieses neue ökologische Paradigma eine ideale Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung. Umrisse des daraus folgenden Wertewandels zeigt das folgende Schaubild.

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